„Zeigt sich das Auseinanderdriften der Gesellschaft bereits in der Rechtschreibung?“

Auf diese Frage der Redakteurin Ute Rang antwortet Prof. Wolfgang Steinig, Universität Siegen, in der OTZ vom 8.10 2013: „Ja, ganz eindeutig!

In einer weltweit einzigartigen Studie hat er nicht nur ermittelt, dass Viertklässlern in 100 Wörtern

  • 2013 durchschnittlich 16 Fehler unterlaufen, während es       
  • 2002 durchschnittlich 12 Fehler und      
  • 1972 gar nur 9 Fehler waren.

Zugleich zeigt die Studie, dass in 100 Wörtern Viertklässlern

  • aus der unteren Schicht durchschnittlich 19 Fehler unterlaufen,
  • aus der unteren Mittelschicht  durchschnittlich 15 Fehler und
  • aus der oberen Mittelschicht  durchschnittlich 11 Fehler.

Das Neue und Spektakuläre daran:

1972 gab es im Rechtschreibvermögen von Viertklässlern „kaum Unterschiede zwischen den sozialen Schichten.“

Wer ist schuld? Professor Steinig: „Leider begünstigt unser selektives Schulsystem eine fatalistische Haltung: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. …  es gibt ja schließlich ab Klasse 5 eine Schule für die Schwächeren und eine Schule für die Stärkeren. Da wird einfach selektiert und man ist das Problem los.“

Nach dieser „Logik“ muss das dreigliedrige Schulsystem in der Bundesrepublik erst nach 1972 eingeführt worden sein, während in der zuvor bestehende Einheitsschule sich die soziale Herkunft der Schüler nicht auf deren Rechtschreibvermögen auszuwirken vermöchte.

War es aber in Wirklichkeit nicht vielleicht eher die in den 70er Jahren losgebrochene reformpädagogische Experimentierwut mit ihrem regellosen Schreiben nach Gehör mittels Anlauttabellen, wodurch nunmehr sogar schon im Rechtschreibvermögen von Viertklässlern die sozialen Unterschiede durchschlagen, weil Schüler aus der „oberen Mittelschicht“ den immer schlechteren Rechtschreibunterricht in den Grundschulen dank ihrer Eltern wenigstens noch halbwegs abfedern können, Schüler aus der „unteren Schicht“ aber nicht?

Gewiss, Professor Steinig sagt auch noch etwas Richtiges: „…wenn ein Kind schwach ist, dann muss es wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Förderung bekommen als starke Kinder. … In Finnland wird für jedes schwache Kind ein spezielles Förderprogramm entwickelt, damit es nicht abgehängt wird.“

Ja, und wer oder was hindert Lehrer und Eltern hier in Deutschland daran, für jedes schwache Kind ein spezielles Förderprogramm zu entwickeln und es mit ihm gemeinsam abzuarbeiten? Das Schulsystem jedenfalls nicht.